In einer Zeit als die Kindersterblichkeit extrem hoch, eine Schwangerschaft für Mutter und Kind tödlich enden konnte und eine Geburt alles andere als Routine war, wurde einer bedeutenden Mediziner-Familie im Frankreich des 18. Jahrhunderts ein Mädchen geboren.
Ihr Name war Angélique Marguerite Le Boursier du Coudray und sie sollte im Laufe ihres Lebens tausende von einfachen Frauen und mehrere hundert bereits ausgebildete Ärzte in der Kunst der Geburtshilfe unterrichten.
Im Jahre 1740 schloss die fünfundzwanzigjährige Angélique ihre dreijährige Ausbildung zur Hebamme ab, die sie bei renommierten Hebammen ihrer Zeit absolviert hatte. Sie legte die Prüfung vor einem Gremium, bestehend aus Hebammen, Chirurgen und weiteren Mitgliedern der Pariser „Ècole de Chirurgie“, ab und war danach als lizensierte Hebamme in Paris tätig.
Im Jahre 1743 hielt man es für eine gute Idee, den Status von Chirurgen gegenüber den Hebammen zu ändern; und zwar insofern, daß der Stand der Chirurgen aufgewertet wurde, diese nun auch in der Geburtshilfe verstärkt tätig werden konnten und während einer Geburt nicht mehr den Anweisungen von Hebammen folgen mussten. Den im 18. Jahrhundert durchweg männlichen Ärzten war es anscheinend so sehr ein Dorn im Auge, bei einer medizinischen Handlung, Anweisungen von Frauen entgegen zu nehmen, daß sie es nötig hatten, ihren eigenen Berufsstand gleich mal aufwerten zu müssen, indem sie sich über die Hebammen stellten.
Madame du Coudray hingegen, war von dieser Idee keineswegs begeistert und kämpfte dagegen an. Sie unterzeichnete gemeinsam mit vielen Kolleginnen eine Petition, in der die Chirurgen beschuldigt wurden, ihre Pflichten zu vernachlässigen. Sie argumentierte, dass eine Hebamme nur von einer anderen Hebamme korrekt ausgebildet werden könne. Würden Ärzte diese Ausbildung übernehmen, würden zukünftige Hebammen schlichtweg falsch ausgebildet werden, was in der Zukunft zu einem Mangel an offiziell akkreditierten Hebammen führen würde. Sie rief die Ärzte dazu auf, sich um eine Lösung für das Problem zu bemühen, um potenzielle Schäden für die schwangeren Patientinnen zu vermeiden. Madame du Coudray erreichte mit ihrem Einsatz, daß junge Hebammen auch weiterhin eine fundierte Ausbildung erhielten und sie selbst zur leitenden Hebamme des Hôtel-Dieu in Paris ernannt wurde.
1759 veröffentlichte Angélique du Coudray eine Abhandlung über die Geburtshilfe: „Zusammenfassung über die Kunst der Geburtshilfe“. Es war eine überarbeitete Fassung eines Buches über Geburtshilfe von Francois Mauriceau aus dem Jahr 1668. Sie schien damit große Aufmerksamkeit erregt zu haben, denn noch im selben Jahr wurde sie von König Ludwig XV. beauftragt, Bauersfrauen in der Geburtshilfe zu unterrichten. Er erhoffte sich damit die hohe Kindersterblichkeit auf dem Land zu verringern.
Er stattete sie mit einem königlichen Befähigungszeugnis und einem regelmäßigen Gehalt aus und schickte sie in die Dörfer und Bauernhöfe des ländlichen Frankreichs. In den Jahren zwischen 1760 und 1783 war sie fast unentwegt auf Reisen und verbreitete ihr Wissen unermüdlich unter den armen Bäuerinnen und den Ärzten in den ländlichen Gebieten. Während dieser 23 Jahre besuchte sie über vierzig französische Städte und Dörfer und unterrichtete um die 4000 Hebammen persönlich. Sie praktizierte vor Ort eine sehr anschauliche Ausbildung, da die meisten der Frauen weder lesen noch schreiben konnten. Weiterhin überwachte sie das Training und die Ausbildung von weiteren 6000 Frauen, die von ihren ehemaligen Schülerinnen unterrichtet wurden. Dazu kamen noch um die 500 Chirurgen und Ärzte, mit denen sie ebenfalls ihr umfangreiches Wissen teilte.
Den großen Ausbildungserfolg erzielte du Coudray mit Hilfe einer Nachbildung eines weiblichen Torsos. Die Erfidung der „Maschine“, wie das Gebilde aus Stoff, Leder, Füllmaterieal, Seilen, Bändern und sogar menschschlichen Knochen, genannt wurde, ermöglichte es den Schülerinnen die erforderlichen Handgriffe immer und immer wieder zu üben. Man konnte sogar mit Hilfe der Seile und Bänder Kontraktionen simulieren. Zu der Maschine gehörte natürlich auch ein Säugling aus Stoff mit geformter Nase, Ohren, aufgemalten Haaren und ganz wichtig: einem geöffnetem Mündchen samt Zunge. Die Mundhöhle der Puppe war so tief, daß die Hebammen-Schülerinnen zwei Finger hinein stecken konnten. Diesen Griff zu üben, war wichtig, weil man so, den Kopf des Kindes in die richtige Richtung drehen konnte, sollte zum Beispiel eine Beckenendlage vorliegen.
Die Lehrkraft konnte den Fötus immer wieder in verschiedenen Positionen platzieren, um den Schülerinnen das Raumverständnis im inneren der Gebärmutter nahe zu bringen und den Tastsinn zu schulen.
Angélique du Coudray arbeitete sehr intensiv mit ihren Schülerinnen. Sie begann mit den Grundlagen der weiblichen Anatomie und der Fruchtbarkeit, fuhr mit den Vorgängen und Veränderungen fort, die sich durch eine Schwangerschaft ergeben und übte schließlich den Geburtsvorgang, wobei sie auch versuchte, komplizierte Geburten nachzustellen, wie Steißlagen, Zwillingsgeburten oder sogar Totgeburten. Auch die Nachsorge für Mutter und Kind wurde ausführlich behandelt. Hatte man sich bis dahin um wenig lebensfähige und schwache Säuglinge nicht groß gekümmert, sondern sie zum Sterben irgendwo liegen gelassen, so kümmerte sie du Coudray darum, dass nun auch diese Kinder durch intensive Pflege eine Überlebenschance erhielten. Durch ihren Einsatz konnten so viele Neugeborene gerettet werden.
Durch ihre Ausbildungsreisen wurde Madame du Coudray zu einer lokalen Berühmtheit und zum Symbol des medizinischen Fortschritts. Ihre Unterrichtsmethode revolutionierte die Lehre der Geburtshilfe im Frankreich des 18. Jahrhunderts.
Angélique Marguerite Le Boursier du Coudray starb in den Wirren der Französischen Revolution am 17. April 1794 in Bordeaux.
Die Umstände ihres Todes sind bis heute nicht geklärt. Niemand weiß, ob sie eines natürlichen Todes starb oder ob sie wegen der Unterstützung, die ihr König Ludwig XV. zukommen ließ, ermordet wurde.
Trotzdem bleibt ihr Name bis heute unvergessen. In Frankreich wurden nach ihr Entbindungskliniken und Straßen benannt.
Text: Nadja von der Hocht
Foto oben: Incertains, Public domain, via Wikimedia Commons
Foto unten: Ji-Elle, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons