Zur Zeit teile ich meinen Arbeitsplatz mit einer Kollegin, die eine grundlegend andere Vorstellung von Ordnung, Sauberkeit, Schnelligkeit und Effizienz hat, als ich. Der Unterschied ist so gravierend, dass ich mir selbst schon die Frage gestellt habe, ob ich nicht vielleicht unter einer Zwangsneurose leiden könnte.
Kann ja sein, dass ich mit meinem Sinn für Ordnung und Symmetrie etwas übertreibe, denn meine Verbesserungsvorschläge werden von der Kollegin seit Monaten konsequent überhört. Wir arbeiten zum Beispiel an einer kleinen Theke, an der einige Dinge ihren festen Platz haben, andere wiederum sind beweglich, werden oft in die Hand genommen und wieder weggelegt.
Ich habe mir den Arbeitsplatz so organisiert, dass ich die Dinge, die ich öfter brauche, schnell zur Hand habe. Ein schneller Griff, benutzen und wieder weglegen. Mit der Zeit hat sich dieser Handgriff so routiniert, dass ich nicht mal mehr hingucken muss, weil meine Hand genau weiß, wo sie hin greifen muss. So bin ich schneller und kann effizienter arbeiten. Wenn ich mit strubbeligem Kopf besagte Gegenstände jedes Mal woanders hinlegen würde, wäre ich nur am Suchen, würde mich verzetteln und ohne Ende Zeit verschwenden. Von dem unprofessionellen Eindruck, den ich bei meinen Gästen hinterlassen würde, ganz zu schweigen.
Meine Kollegin macht sich über Dinge wie Effizienz keine Gedanken. Wenn ich sie ablöse, finde ich jedesmal einen vollkommen chaotischen und unordentlichen Arbeitsplatz vor. Von dem Schmutz, den sie ständig hinterlässt ganz zu schweigen. Manchmal kostet es mich geschlagene dreißig Minuten, ihr Chaos wieder zu ordnen und hinter ihr her zu Putzen. Dazu kommt der Ärger, der mich jedes Mal aufs Neue übermannt, wenn ich das Schlachtfeld betrachte, mit dem ich dann weiter arbeiten soll. Während ich dann Ordnung schaffe, stelle ich mir oft die Frage, was mich mehr ärgert, die Unordnung selber, oder dass es Menschen gibt, die so schlampig sind oder vielleicht ist es auch die Tatsache, dass besagte Menschen mit ihrer Sorglosigkeit mir ständig das Leben schwer machen, indem ich hinter ihnen aufräumen muss.
Wenn ich genug Zeit für mein Kopfkino gehabt und ich mich lange genug über die Unfähigkeit meiner Mitmenschen aufgeregt habe, neige ich irgendwann dazu, die Schuld bei mir selbst zu suchen. Vielleicht bin ich doch zu streng? Übertreibe ich vielleicht ein bißchen? Oder leide ich am Ende etwa an einer Zwangsneurose?! Oh, Mann! Das sollte ich vielleicht mal abklären … also ab ins Internet und schlau machen. Was ist jetzt genau eine Zwangsneurose?
Die Informationen im Netz sind mal wieder mannigfaltig und wenn man sich ganz doll Mühe gibt, findet man mit Sicherheit irgendein Symptom, dass eventuell auf einen zutreffen könnte. Ich hab hier mal ein paar Beispiele für eine Zwangsstörung herausgesucht:
Da gibt es zum Beispiel den Reinlichkeitszwang. Der Betreffende leidet unter dem Zwang, sich dauernd die Hände waschen zu müssen, oder die Wohnung auf Hochglanz zu wienern, jeden Tag die Fenster zu putzen oder das Bad und die Küche keimfrei zu halten.
Beim Kontrollzwang wird alle Nase lang die Herdplatte überprüft, ob man sie auch wirklich ausgestellt hat, oder das Türschloss, das man gerade abgeschlossen hat, wird mehrfach kontrolliert, ob es auch tatsächlich zu ist.
Dann gibt es da noch den Ordnungszwang. Das ist der Zwang, für Symmetrie oder perfekte Ordnung zu sorgen. Dabei werden zum Beispiel Bücher im Regal oder auch Lebensmittel nach ganz bestimmten Regeln, die der Betreffende sich natürlich selbst aufgestellt hat, sehr präzise angeordnet.
Der Berührzwang nötigt den Betroffenen dazu, zum Beispiel bei jedem Spaziergang, jeden Baum oder jede Straßenlaterne anzufassen.
Verbale Zwänge schließlich, veranlassen denjenigen dazu, bestimmte Ausdrücke, Sätze oder auch Melodien ständig zu wiederholen.
Nachdem ich mich nun sehr gründlich und sehr selbstkritisch überprüft habe, würde ich als erstes mal den Reinigungszwang für mich persönlich ausschließen. Ich halte meinen Arbeitsplatz zwar sehr sauber aber diese Pingeligkeit übertrage ich nicht in mein Privatleben. Bei mir zu Hause muss sich Besuch erst eine Woche vorher ankündigen, damit ich genug Zeit habe, meine Wohnung auf Vordermann zu bringen, bevor ich mich traue, jemanden herein zu lassen.
Im Kontrollzwang finde ich mich auch nicht wieder. Wenn ich eine Tür abschließe, weiß ich, dass sie zu ist und gehe meiner Wege und wegen eventuell angelassener Herdplatten oder Bügeleisen bin ich auch noch nie panisch wieder nach Hause gerannt.
So etwas Ähnliches wie einen Berührzwang verspüre ich in der Regel nur bei Katzen. Wenn mir eine Katze über den Weg läuft, muss sie unbedingt angelockt und durchgekrault werden. Aber wenn die Mietze nicht will und sich nicht anlocken lässt, ist es auch nicht schlimm.
Für verbale Zwänge bin ich auch nicht der Typ, da ich eher ein schweigsamer Vertreter meiner Gattung bin.
Bleibt nur noch der Ordnungszwang, bei dem man bestimmte Gegenstände gerne symmetrisch ausrichtet und alles an seinem richtigen Platz liegen muss. Das mache ich tatsächlich, allerdings auch nur auf der Arbeit und aus dem simplen Grund, dass es einem das Arbeiten erleichtert und mir hilft, mich schneller und effizienter zu bewegen. Zu Hause dagegen, bin ich öfter mal auf der Suche nach meinen Klamotten. Da habe ich mehrere Plätze, wo ich meine Sachen fallen lasse. Vielleicht sollte ich meine Pedanterie, die ich auf der Arbeit auslebe, etwas aufteilen und ein bißchen davon zu Hause praktizieren….
Also nach gründlicher Recherche und Anamnese kann ich für mich die Diagnose stellen, nicht an einer Zwangsstörung zu leiden. Aber was ist es dann, dass ich mich ständig über die Unfähigkeit und Schlampigkeit meiner Kollegin aufregen muss?!?
Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich einfach einen sehr hohen Anspruch habe, was Ordnung, Sauberkeit, Schnelligkeit und Effizienz am Arbeitsplatz betrifft und dass es für andere oft sehr schwer ist, meinen Ansprüchen genüge zu tun. Jetzt muss ich nur noch lernen, den Ärger abzustellen und mich stattdessen darüber zu freuen, dass ich in vielen Dingen schlicht und einfach besser, gründlicher oder verlässlicher bin als andere. Wenn ich jetzt noch lerne, diese Fähigkeit mit in mein Privatleben zu nehmen und endlich anfange meine Energie, die ich jeden Tag in den Job stecke, lieber mal umleite um sie in meine eigenen Projekte zu kanalisieren bin ich für die Zukunft dann doch auf einem guten Weg. Vielleicht schaffe ich es, mit diesem guten Vorsatz, endlich meine vielen angefangenen Buchprojekte zu beenden …. Man darf gespannt sein.
Text: Nadja von der Hocht
Grafik: Nadja von der Hocht