Neulich hatte ich das zweifelhafte Vergnügen einer Horde Jungs zwischen grob geschätzten acht bis zwölf Jahren beim Spielen und Toben zuzusehen … und gezwungener Maßen auch zuzuhören! Die machten vielleicht einen Lärm! Kaum einer war in der Lage, sein Anliegen gesittet den Mitstreitern vorzutragen. Es wurde nur gebrüllt und geflucht. Sie jagten abwechselnd sich gegenseitig und bolzten zwischendurch einen schon ziemlich malträtierten, grünen Fußball über den Spielplatz.
Ich hatte gerade versucht den Lärmpegel in die Kategorie „weißes Rauschen“ einzuordnen, als es plötzlich still wurde. Sieben Jungs, die alle gleichzeitig still sind? Das war verdächtig. Ich sah mich nach ihnen um und entdeckte sie an einer Mauer, wie sie etwas Kleines, das ich nicht erkennen konnte, umzingelten. Das kleine Ding bewegte sich und sofort stoben alle erschreckt und kreischend auseinander. Aber nicht lange. Sie kamen zurück, um es erneut zu umzingeln und ausgerechnet der Kleinste von ihnen hob einen Stein auf, um das winzige Etwas damit zu bewerfen. An der Stelle hatte ich genug beobachtet. Ich ging auf die kleinen Monster zu.
Normalerweise halte ich zu Kindern, besonders wenn sie so zahlreich auftreten, einen gesunden Abstand. Sie sind mir einfach zu laut, hören nie zu, fassen alles an, fragen nicht, gehorchen nicht, machen alles dreckig, sind frech und unverschämt, Grüßen nicht … kurz gesagt, ich habe Hunde, die höflicher und besser erzogen sind, als so manches Menschenkind, dass da draußen den Großteil des Tages sich selbst überlassen wird. Wobei ich an dieser Stelle vielleicht noch erwähnen sollte, dass sich meine Erfahrungen in letzter Zeit fast ausschließlich auf spanische Kinder beziehen.
Trotz meiner Vorbehalte und der Befürchtung, dass ich gleich Opfer frecher, lästiger, kindischer Attacken werden würde, bewegte ich mich also auf die Gruppe zu und erkannte beim Näherkommen ein kleines Insekt auf dem Boden sitzen. Während ich noch schnellen, entschlossenen Schrittes auf das Geschehen zuging, hatte der Jüngste von allen noch Zeit dreimal auf das Tier mit Steinen zu zielen und zu treffen. Ich bahnte mir einen Weg durch das Getümmel, bückte mich und hob wortlos die große Heuschrecke vom Boden auf, die die Jungs gerade im Begriff waren erst zu verstümmeln und dann zu töten.
Als die Kinder zusahen, wie ich mich bückte und völlig entsetzt beobachteten, wie ich nach dem Tier griff, um es in die Hand zu nehmen, fingen sie an zu schreien:
„Nein!“
„Nicht anfassen!“
„Das ist giftig!“
Ich konnte nur fassungslos den Kopf schütteln und ging zum nächsten Gebüsch um den erschreckten Heuschreck behutsam auf einem Ast abzusetzen.
Einer der Jungs rief sogar nach seiner Mutter:
„Mama! Sie hat den Saltamontes angefasst! Es wird sie beißen!“
Tatsächlich kam vom Spielplatz ein Antwort zurück:
„Was!? Wer?“
Jetzt umringten die Kinder mich und sahen mit runden Augen zu mir hoch. Der Älteste von ihnen fasste sich ein Herz und sprach mich an.
„Bist du Spanierin?“, fragte er mich.
„Nein“, war meine knapp bemessene Antwort.
„Die darf man nicht anfassen!“, belehrte er mich. „Die machen krank.“
Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und fragte mich, wer den Kindern so einen Unsinn beigebracht hatte. Hier war offensichtlich Klärungsbedarf erforderlich und ich überlegte gerade, wie ich den Jungs möglichst freundlich ihren Irrtum klarmachen sollte, als der Kleinste, der immer noch einen Stein in der Faust hatte, mich fest ansah und bestimmte:
„Man muss sie töten!“
Okay, dachte ich, völlig egal wie alt du bist, jetzt reicht´s! Aus meinen Augen glomm der ein oder andere Funken meines alten Wegbegleiters Jähzorn und ich fragte das Kind mit strenger Stimme:
„Hast du ein Problem mit Saltamontes (Heuschrecken)?“
„Nein!“ rief er und warf sich in die Brust.
„Wolltest du das Tier essen?“ bohrte ich weiter.
„Nein! Igitt! Die isst man doch nicht!“
„Warum wolltest du es dann töten?“
Der Frage folgte betretenes Schweigen. Vielleicht dachten sie nach?
Ich beschloß Paul Hogan aus „Crocodile Dundee“ zu zitieren:
„Töte niemals ein Tier, es sei denn, du willst es essen!“
„Das ist eigentlich richtig“, sagte plötzlich der älteste Junge.
„Wir wollten es ja auch gar nicht töten!“ rief ein anderer dazwischen und zeigte mit dem Finger auf den Kleinsten und einen weiteren Jungen. „Die beiden da wollten es!“
„Was sagst du da?!“ brüllte der ältere Beschuldigte und sofort lärmten wieder alle durcheinander.
In der Zwischenzeit hatte Junge Nummer sieben seine Mutter vom Spielplatz geholt, die jetzt auch wissen wollte was los sei.
Sofort erklärten alle Jungs gleichzeitig, dass ich eine giftige Heuschrecke angefasst hätte, eine „Mantis religiosa“
Ich sah der Frau ins Gesicht und wunderte mich über ihre besorgten Blicke, mit denen sie mich musterte.
Ich verstand die Welt nicht mehr und sah mich im Gebüsch nach der Heuschrecke um, um sie nochmal in die Hand zu nehmen und allen zu zeigen, aber die hatte sich wohlweislich gut getarnt und ich fand sie auf die Schnelle nicht wieder. So erklärte ich:
„Heuschrecken machen nichts! Die essen nur Grünzeug und sind ganz friedlich!“
Die Mutter zeigte auf das Grün den Balls, den einer Jungs unter den Arm geklemmt hatte und behauptete:
„Es gibt aber welche, von denen wirst du krank, wenn sie dich beißen. Sie sind grün und groß und sehr aggressiv! Man kann Fieber bekommen!“
Ich klimperte ein paar Mal mit den Augen und versuchte diese neue Erkenntnis mit meinem mühsam zusammengetragenen Wissensstand in Einklang zu bringen. Dann kam die Erleuchtung.
„Was du meinst, sind Gottesanbeterinnen! Sie sind wunderschön und faszinierend.
Das hier war nur eine gewöhnliche Heuschrecke! Die sind harmlos. Aber du hast recht, Gottesanbeterinnen fasst man besser nicht an. Die legen sich sogar mit Katzen an und sind sehr kämpferisch.“
Ich schaute auf die Jungs runter, die mich immer noch anstarrten, als würden sie nur darauf warten, dass ich gleich von Krämpfen geschüttelt zu Boden sinke und überlegte, ob ich ihnen noch eine Information zukommen lassen sollte… nämlich dass dieses spezielle, weibliche Insekt nach dem Liebesakt mit Genuß seinem Partner den Kopf abbeißt….. aber dafür fand ich sie dann doch noch ein bißchen zu jung.
„Also, habt ihr das jetzt verstanden? Große, grüne Gottesanbeterinnen nicht anfassen, weil sie bissig sind und je nachdem, was sie zuvor mit ihrem Kauwerkzeug zerhäckselt haben, kann sich ein Biß von ihnen tatsächlich schlimm entzünden. Aber normale Grashüpfer oder Heuschrecken sind harmlos und tun niemandem was. Bitte keine Tiere mehr töten. Auch wenn man sie nicht anfassen darf, ist es kein Grund sie umzubringen. Sind wir uns einig?“
Einige von ihnen nickten, die anderen schienen noch nicht so ganz überzeugt.
Aber die Mutter sah, dass hier alles in Ordnung war und kein Krankenwagen gerufen werden musste und so hielt sie die Meute dazu an, mich jetzt in Ruhe zu lassen und weiter spielen zu gehen. Sie stoben auseinander und ich durchsuchte, als alle weg waren, das Gebüsch heimlich mit den Blicken nach dem Grashüpfer, der allen so einen Schreck eingejagt hatte.
Nach einiger Zeit fand ich ihn. Er saß auf einem Ast, hatte nur noch anderthalb Kopffühler und versuchte mit nur noch einem Sprungbein zu Recht zu kommen. Das andere hatte er wohl bei der Attacke mit den Steinen unterhalb des Sprunggelenks eingebüßt. Er war sehr groß und war so freundlich noch eine Weile für mich still zu halten, damit ich Fotos von ihm machen konnte. Er kaute noch an ein paar jungen Blättern herum und nach einiger Zeit gingen wir beide wieder unserer Wege.
Ich war froh, daß ich dem zähen Burschen den Tod durch Steinigung ersparen konnte und hoffte, wenigstens ein paar von den Rabauken zum Nachdenken angeregt zu haben, oder dass sie wenigstens den Unterschied zwischen Saltamontes (Heuschrecke) und Mantis religiosa (Gottesanbeterin) begriffen hatten …
Aber ich fürchte, keine zwei Minuten später haben sie die Geschichte bestimmt wieder vergessen. Denn sobald das nächste unvorsichtige Tierchen ihren Weg kreuzt, wird es nicht bestaunt oder untersucht und dann wieder in Ruhe gelassen, sondern eiskalt abgemurkst. Und wahrscheinlich ist das noch nicht mal ihre Schuld. Die Eltern geben sich einfach nicht mehr genug Mühe, ihren Kindern die Welt zu erklären. Warum auch immer. Vielleicht aus Zeit- oder Interessemangel oder weil sie es schlicht und einfach auch nicht besser wissen.
Da ist ein Tier mit dem nicht zu spaßen ist, es kann sogar gefährlich werden, also sagt man dem Kind der Einfachheit halber, es sei Giftig, um es so davon abzuhalten in seine Nähe zu kommen. Das Kind wiederum schließt daraus, dass das Tier böse ist. Wenn man es nicht anfassen darf, weil es böse ist, muss man es töten! Einfache, infantile Schlußfolgerung. Entweder bin ich ein Schisser und hab Angst vor dem Tier und lass mich von meinen Freunden dafür auslachen, oder ich beweise, dass ich groß und stark und furchtlos bin und demonstriere meine Überlegenheit, indem ich das hilflose, viel kleinere Tier mit dem ungerechtfertigten schlechten Ruf kurzerhand abmurkse. Die Welt des Kindes ist jetzt wieder in Ordnung, es fühlt sich vielleicht sogar selbstbewußt und ist stolz auf seine Tat… und alles nur, weil keiner mehr hinschaut und die Eltern nichts Schlimmes daran finden. Ist doch nur ein Tier… Das nächste Lebewesen, an dem das Kind seine Stärke messen wird, ist vielleicht ein paar Nummern Größer…
Fotos: Nadja von der Hocht